Kunst für das Volk oder das Volk für die Kunst?
- Denis Leo Hegic
- vor 2 Tagen
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Teil I: Die große Illusion
Irgendwo zwischen staatlich gefördertem Kitsch und von Sammlern finanzierten Eitelkeitsprojekten tut die Kunst immer noch so, als ginge es ihr um „das Volk“. Der Ausdruck taucht am Ende jeder Förderanfrage auf, in vielen Texten von Biennale-Kurator*innen und bei jedem verzweifelten Versuch, eine weitere „immersive“ Erfahrung zu rechtfertigen. Aber wer ist dieses Volk? Braucht es Kunst? Will es sie überhaupt?
Theoretisch war öffentliche Kunst schon immer für die Menschen gedacht – Wandgemälde, Statuen auf Plätzen, staatlich subventionierte Opern. Selbst die Kirche mischte mit, indem sie das Volk mit dramatischen Kreuzigungen manipulierte, während es hungerte. In der Praxis war öffentliche Kunst jedoch meist ein Spiegelbild derjenigen, die sie finanzieren: die Medici, die Päpste, die Öl-Magnaten, die Banken, die Luxusmarken. Öffentliche Kunst oder Kunst im öffentlichen Raum folgt dem Geschmack ihrer Geldgeber, während das „Volk“ Schlange steht, um ein Selfie damit zu machen – und dafür bezahlt.
Und die Künstler*innen? Schaffen sie etwa für die Menschen? Unwahrscheinlich. Sie schaffen für ihre Galeristen, ihre Sammlerinnen, ihre Institutionen. Oder schlimmer: für ihren eigenen Mythos. Das Einzige, was unerträglicher ist als eine Künstlerin, der oder die behauptet, „für das Volk“ zu schaffen, ist einer oder eine, der oder die behauptet, nur „für sich selbst“ zu schaffen. Beide lügen – nur in unterschiedlichen Preisklassen.
Wenn wir ehrlich sind, ist das Verhältnis auf den Kopf gestellt: Das Volk ist für die Kunst da. Es liefert das Publikum, den Applaus, die Bestätigung. Es ist der passive Konsument, das wandelnde Portemonnaie, die Statistik im Jahresbericht des Museums. Selbst im besten Fall, wenn ein Kunstwerk im Innersten etwas beim Betrachtenden bewegt, bleibt der Austausch einseitig. Die Kunst nimmt. Die Menschen geben.
Zumindest würde ein Zyniker das so sehen...
Teil II: Die geheime Kraft der Kunst
Und doch – trotz all dem: dem Markt, den Institutionen, den Egos, dem Schein – weigert sich die Kunst, in ihrem goldenen Käfig zu bleiben. Sie entweicht durch die Ritzen. Ein Gemälde im Museum kümmert sich nicht darum, wem es gehört; es blickt jeden an, der vor ihm stehen bleibt. Ein Lied, geschrieben in einer Diktatur, hallt immer noch durch die Straßen, wenn die Menschen es am dringendsten brauchen. Kunst findet Wege, ihren Hütern zu entkommen.
Selbst das kalkulierteste, geldgetriebene Kunstwerk kann vom Volk zweckentfremdet werden. Ein Popsong, gedacht als Parfümwerbung, wird zur Protesthymne. Eine von Konzernen finanzierte Installation wird zum Treffpunkt für Gespräche unter Fremden. Eine Statue, die Macht verherrlichen soll, trägt plötzlich eine Clownsnase. Egal, wie sehr das System versucht, sie zu kontrollieren – Kunst gehört nie ganz denen, die sie finanzieren.
Vielleicht ist das der Grund, warum die Menschen immer wieder kommen. Vielleicht ist das der Grund, warum trotz überteuerter Tickets, schlechter Texte von Kurator*innen und des erdrückenden Elitarismus der Kunstwelt jemand vor einem Gemälde steht – und etwas fühlt. Vielleicht geht es bei Kunst gar nicht um Transaktion. Vielleicht geht es um Transmission – von Bedeutung, von Emotion, von Erinnerung. Denn am Ende brauchen Menschen Kunst nicht, um zu überleben. Aber sie brauchen sie, um zu leben.